Alte Schriften – Kapitel 1



Der Buchhändler
 

Richard stellte die Tasse Tee neben die Kasse auf den alten Tresen. Dort wo der eingetrocknete Wasserrand auf dem dunkelfarbenen Holz zu sehen war. Er stellte sie immer dort ab, wenn er eine Pause machte.

Seit 25 Jahren besaß er das „Libri“; einen alten Buchladen fernab der Stadt. Vor ihm war es sein Großvater der den Laden, mit einer Handvoll Büchern, zum ersten Mal geöffnet hatte. Er war es auch der seine Liebe für Bücher und alte Schriftstücke weckte und ihm das Handwerk des Restaurators näherbrachte.

Einige seiner Kunden kamen schon seit etlichen Jahren hierher, um ihre Bücher überarbeiten zu lassen. Doch den älteren Mann, der ihn kurz vor Ladenschluss besuchte, sah er zum ersten Mal.

 

Richard hatte gerade begonnen die Lieferungen vom Vortag auszupacken und auf die Regale zu verteilen, als er den gebeugten Mann sah. Er zog eine Augenbraue hoch, denn der Alte wirkte alles andere als freundlich. Einen Moment lang stand Richard da und war sich nicht sicher, ob er auf ihn zu oder von ihm weggehen sollte.

»Guten Abend«, erklang eine Stimme, in einem respektvollen Tonfall, mit dem er nicht gerechnet hatte. Richard räusperte sich, richtete sich auf und begrüßte den Fremden nun seinerseits.

»Es tut mir leid, aber ich war gerade dabei den Laden zu schließen«, entgegnete er knapp, denn bei dem Auftreten des alten Mannes drängte sich ihm ein Unwohlsein auf, das er sich nicht erklären konnte.

»Es wird nicht lange dauern.« Mit diesen wenigen Worten reichte der alte Mann Richard etwas, das in dickem Stoff eingeschlagen war.

In dem Stoff befand sich ein Buch, dessen abgenutzter und brüchiger Einband schon anfing zu zerfallen. Richard legte alles auf den Tresen, zog ein paar Baumwollhandschuhe aus seiner Tasche und betrachtete das Buch vorsichtig von allen Seiten.

»Wie alt ist es?«

»Sehr alt …«, entgegnete ihm der Mann.

Beim Aufschlagen des eigenartigen Buches verließ Richard jegliche Besorgnis über den Besitzer. Fasziniert von den handschriftlichen Texten, die er nur zum Teil deuten konnte, blätterte er durch die vergilbten Seiten.

»Behandeln sie es gut.«

Richard sah nicht auf, sondern nickte nur.

Als er sich umdrehte, um mit dem Alten über die Arbeitsschritte zu reden, war dieser bereits verschwunden.

Verunsichert schlug er das Buch zu.

Am nächsten Morgen schaute Richard auf seine Notizen. Er hatte gelernt in dem Chaos aus Büchern den Überblick zu behalten, indem er sich alle Erledigungen für den nächsten Tag aufschrieb.

Mit der letzten Lieferung kam ein Buch für einen Kunden ganz in der Nähe. Richard kramte sein altmodisches Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer, die er sich hinter dem Namen notiert hatte.

»Hallo? Spreche ich mit William Baxter?« Am anderen Ende rauschte es. »Hier ist Richard aus dem Libri. Ihr Buch ist angekommen!« Wieder vergingen einige Sekunden, in denen er vergeblich auf eine Antwort wartete.

Richard entkam ein missmutiges Grummeln, als er auf den Knopf zum Auflegen drückte. Er schob das Handy wieder zurück in seine Tasche und streckte sich ermattet. »Dann wollen wir mal!«, sprach er zu sich.

Richard hatte die Angewohnheit in manchen Situationen mit sich selbst zu sprechen. Himmel, er war fast 50, da darf man doch wohl einige Eigenarten entwickeln!

Gespannt auf das Buch, begab er sich in den hinteren Teil des Ladens zu der Wendeltreppe die ihn nach unten, in den Arbeitsbereich, führte. Dieser Bereich des Libris besaß keinerlei Fenster. Richard betätigte den Schalter neben der Wendeltreppe, um das Licht einzuschalten.

Sein Arbeitsplatz befand sich weiter hinten im Raum und war, wenn man erst einmal an einigen Kartons vorbei war, recht geordnet und übersichtlich.

Das seltsame Buch des Alten lag ausgebreitet auf seinem Tisch und wartete darauf neu gebunden zu werden. Da der Fremde keinerlei Worte über den Zeit- oder Kostenaufwand geäußert hatte, verbrachte Richard den morgen damit die Seiten zu säubern und Knicke auszubessern, ehe er mit dem Binden beginnen wollte.

»Wenn ich so weiter mache, sollte ich bis heute Abend durch sein«, ermutigte er sich, während er den Stuhl vorzog um sich zu setzten.

Dieses Buch hatte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn und bisweilen ertappte er sich dabei ganze Textstellen zu studieren, anstatt mit dem Binden fortzufahren. Eine der Seiten interessierte ihn besonders. Sie wurde mit Kohle schwarz eingefärbt und anschließend mit blassen, sonderbaren Symbolen beschrieben. Der kurze Text, der sich auf der Seite befand, faszinierte ihn so sehr, dass er begann die eigenartigen Wörter darin langsam und laut vorzulesen. »Y‘ uln shogg.« Ein kurzes Flackern der Lampen, doch Richard war von den Worten so gefesselt, dass er weiter lass. »Mggoka ya ph‘ nglui.« Es flackerte erneut. Mit den Silben »Y‘ ephaiahnyth.« versagten sämtliche Lampen. Richard sah sich um. Alles lag im Dunklen. Er stand auf, wobei sich langsam einzelne Umrisse abzeichneten. Die alte Glühbirne, die seinen Arbeitsplatz beleuchtete, sowie das Deckenlicht und scheinbar sämtliche anderen Lampen im Laden waren ausgefallen. Er tippte vorsichtig mit dem Finger gegen den Leuchtkörper, doch nichts geschah. »Mist …«, schimpfte er leise vor sich hin, als er oben im Laden Schritte hörte. »Hallo?«, rief er und lauschte.

»Ähm … William Baxter hier … sie hatten versucht mich anzurufen«, rief eine Stimme die Wendeltreppe hinunter.

»Ja. Natürlich«, entgegnete Richard, »Warten sie! Ich bin gleich bei ihnen.« Gerade als er sich umdrehte, um den Stuhl beiseitezuschieben, schalteten sich die Lichter wieder ein und er stand im gelblichen Schein der Glühbirnen.

 

Als Richard den Ladenbereich betrat, stand der junge Mann am Tresen und sah ihn erwartungsvoll an, »Haben sie es?«

Richard nickte und zeigte auf ein schmales Buch hinter dem Ladentisch. »Hier …«

»Sie glauben ja nicht wie lange ich nach diesem Buch gesucht habe …«

»Sie hatten es angedeutet«, erwiderte Richard. Er schlug das Buch in dickes Packpapier, ehe er es William reichte.

»Behalten sie den Rest.«

»Das müssen sie nicht«, entgegnet Richard ihm freundlich.

William lächelte. »Schon okay, sie haben gehalten was sie versprochen haben.«

Richard nickte einsichtig. »Dann bis zum nächsten Mal.«

Als der Kunde den Laden verlassen hatte, wanderte sein Blick hinüber zu der alten Wendeltreppe. »Wenn das Licht jetzt wieder geht, könnte ich eigentlich weiterarbeiten«, überlegte er, während er gedanklich schon durch die alten Seiten blätterte.

 

Das Buch mit der sonderbaren, schwarzen Seite lag auf seinem Arbeitstisch, darauf wartend zu Ende gebunden zu werden.

Sekunden verstrichen, in denen Richard nur dastand und das Buch ansah. Es half nichts es zu leugnen, dieses Buch faszinierte ihn und das mehr als jedes andere, das sich in seinem Laden befand.

Gerade als er fortfahren wollte, bemerkte er, dass der sonderbare Text, den er vorgelesen hatte, noch eine weitere Zeile besaß. Unterhalb der Seite standen die Silben „Ya athg“ geschrieben. »War das vorhin schon da?« Richard zog die Augenbraun zusammen. »… ich werde wohl alt«, grübelte er, ehe er sich setzte und mit dem Binden fortfuhr.

Nachdem er fertig war, verbrachte er den Rest des Abends damit die Regale einzuräumen. Das Einsortieren der Bücher war genau das was er jetzt brauchte, um die eigenartigen Zeilen eine Weile zu vergessen. Richard seufzte als er den halbvollen Karton mit Büchern aufschlug. Seit gestern Abend hatte er keinen Gedanken mehr an das Einsortieren verschwendet und die restlichen Bücher dort gelassen, wo sie waren.

Er hatte eine bestimmte Art die Bücher zu ordnen. Die Art und Weise auf die es schon sein Großvater gemacht hatte. Natürlich ordnete er die Bücher nach Inhalt, doch auch dem geschätzten Alter sprach er eine gewisse Ordnung zu, so dass die älteren Exemplare weiter hinten im Laden aufbewahrt wurden. Diese Bücher wurden besonders sorgfältig behandelt und landeten nicht selten für eine Restaurierung auf seinem Arbeitstisch.

Gerade als er dabei war die letzten Bücher ins Regal zu stellen, gingen im Libri erneut die Lichter aus. Verwundert wandte er sich um. – Der komplette Laden lag im Dunkeln. Nicht schon wieder. Richard versuchte zwischen den Regalen hindurchzukommen, ohne dabei über den Bücherkarton zu stolpern, der irgendwo auf dem Boden vor ihm stand.

Das Libri war alt. Die Leitungen müssten erneuert werden damit alles einwandfrei lief, doch Richard hatte weder das Geld noch die Zeit um sich darum zu kümmern – dennoch zwei Ausfälle an einem Tag waren ungewöhnlich.

Seine Augen gewöhnten sich mehr und mehr an die Dunkelheit, so dass es ihm mittlerweile möglich war den gesamten Ladenbereich zu überblicken. Als er an der Fensterfront vorbeikam bemerkte er es. Ein dunkles Flackern, das er aus den Augenwinkeln wahrnahm. Er wandte den Kopf zur Seite; als es klopfte!

Mit einem Mal stand er im Schein der altmodischen Ladenbeleuchtung. Verwirrt sah er sich um und erneut klopfte es. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass das Klopfen von ihm kam. – Richard hasste die üblichen Klingeltöne und entschied sich daher für ein dezentes Klopfen, sobald er eine Nachricht erhielt. Ungläubig starrte er auf das Display.  Ein ungutes Gefühl machte sich breit. Richard sah sich um. »Ich glaube – ich brauche jetzt erst einmal einen Tee.«

Es war inzwischen nach Ladenschluss und die Eingangstür war abgesperrt. Richard saß am Tresen und drehte das Handy in seiner Hand hin und her. Die Nachricht, die sich auf seinem Handy befand, war beunruhigend. Es waren die Worte „Ya athg“ zu lesen. Eben jene Worte über die er heute schon einmal, in dem seltsamen, alten Buch, gestolpert war – Irgendjemand spielte ein Spiel mit ihm.

Seine Telefonnummer stand draußen an der Ladentür; damit er auch außerhalb der Öffnungszeiten erreichbar war. Aber bis auf den alten Mann wusste niemand, dass er das Buch an sich genommen hatte.

 

Mit einem unguten Gefühl verließ Richard den Laden. Die schwere Hintertür führte in eine Nachbargasse und fiel lärmend ins Schloss. Richard sah sich einen Moment lang um. Es war weit nach zehn Uhr abends und der schmale Durchgang, der hinter dem Libri entlangführte, lag komplett im Dunkeln. Mit dem Fuß trat er eine leere Milchpackung beiseite und stolperte beinahe über einen unachtsam platzierten Müllsack, bevor er endlich in die Nähe einer Straßenlaterne kam.

Richard fühlte sich unwohl dabei, doch er griff abermals nach seinem Handy und rief die Nachricht auf, die er erhalten hatte. Die Worte, so seltsam sie auch klangen, kamen ihm bekannt vor.

»Ya athg …«, sprach er mit leiser Stimme und ein verzerrtes „Ya athg“ bekam er zur Antwort.

Richards Herz setzte einen Schlag aus, als er die Worte aus jener Seitengasse kommen hörte, die er soeben verlassen hatte. Auf einmal schien er eine Bewegung auszumachen. Bar jeglicher Vernunft rannte er los, getrieben von der Angst etwas sei hinter ihm her. Etwas das er nicht kannte. Die Lichter der Straßenlaternen begannen zu flackern; als Richard stoppte! Starr vor Angst und mit klopfendem Herzen fiel es ihm wieder ein – die Silben, vor die ihm sein Großvater gewarnt hatte …

Ya athg – Ich stimme zu

Dunkelheit legte sich über die Straßen und über alles was Richard kannte und inmitten dieser Dunkelheit … sah er ihn! Richards Lippen öffnete sich zu einem stummen Schrei, als sich die Dunkelheit jäh über seinen Geist legte.

  

Ich rufe das Reich der Dunkelheit.

Bring mich über die Schwelle.

Ich werde dienen.

  

Die Zeilen verschwanden und ließen nichts als leeres, vergilbtes Pergament zurück. Die Seiten waren geglättet und frisch gebunden. Der alte Mann nahm das Buch vorsichtig wieder an sich, ehe er mit ruhigen Schritten die Wendeltreppe des Libris hinauf ging.

Kapitel 1 Ende


Weiter mit Kapitel 2

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