Alte Schriften – Kapitel 2



Der Kunde
 

Die Beleuchtung brannte und tauchte den Laden in ein warmes, gelbes Licht. Auf dem Tresen, neben dem eingetrockneten Wasserfleck, lag das Notizbuch, das Richard heute Morgen zurate gezogen hatte. Der Alte betrachtete es eine Weile, dann streckte er die faltige Hand danach aus und schlug es auf.

Die Adresse, unter dem letzten Eintrag, gehörte zu der Bestellung, die heute abgeholt wurde. In einer gleichmäßigen Bewegung trennte der Alte die Seite von der Bindung und steckte sie anschließend ein.

Das Buch, das er Richard zum Restaurieren überlassen hatte, legte er ebenfalls auf den Tresen, griff nach dem Stoff, den er bei sich trug, und schlug es sorgfältig darin ein, ehe er das Libri auf demselben Wege verließ, wie er es betreten hatte.

Ein leichter Dunst durchzog die leeren Straßen und trübte die Sicht auf die klammen Pflastersteine. Die Laternen brannten und in der Stille der Gassen, hörte man die ruhigen Schritte des alten Mannes widerhallen …

William saß an seinem Schreibtisch und studierte das Buch, auf das er so lange gewartet hatte – Edward Pickman Derbies „Nachtmare Lyrics“, welche dieser im Alter von 18 Jahren veröffentlichte. Diese düsteren, fantastischen – ja fast krankhaften Verse, die gerade zu charakteristisch für den Schreiber waren, faszinierten William so sehr, dass er über die Jahre nahezu alle Werke Derbies zusammengetragen hatte.

Dieses jedoch fesselte ihn solcher maßen, dass er das erste Klingeln an der Tür vollkommen überhörte.

William sah auf als es abermals klingelte. Ein prüfender Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bereits kurz nach elf war. Vorsichtig klappte er sein Buch zu und ging ungläubig zur Haustür.

»Wer ist da?«, erkundigte er sich durch die verschlossene Tür hindurch.

»Ein Kurier …«, antwortete ihm der alte Mann, doch die Tür blieb geschlossen. »Richard schickt mich – der Besitzer des Libris.« Doch noch immer geschah nichts. »Ich habe etwas für sie«, drängte ihn der Alte nun.

»Legen sie es auf die Treppe …«, entgegnete William knapp, »ich hole es dann rein.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Dann noch einen schönen Abend«, hörte er die Stimme, ehe sich der Alte entfernte. William entriegelte die Tür.

Auf seiner Schwelle lag ein handliches, in Stoff eingeschlagenes Bündel, das nicht mehr als 12 Zoll maß. William hob es auf und schaute sich schließlich um. Im Dunkel der Nacht sah er die gebeugte Silhouette eines Mannes verschwinden. Seltsam, dachte er, ehe er die Tür wieder verschloss und das Bündel vorsichtig auf den Tisch legte, um es zu öffnen.

Das Buch, das inmitten des schweren Stoffes lag, wirkte auf den ersten Blick wie neu; als William es jedoch aufschlug, wurde ihm klar, dass es sich um ein aufgebessertes, antikes Stück handeln musste. Er war sich nicht sicher, weshalb er dieses Buch erhielt, doch es wirkte ohne Zweifel interessant – er würde sich morgen im Libri melden und nach dem Grund fragen.

Beim Durchblättern der Seiten fielen ihm die Textstellen auf, die in einer Sprache geschrieben waren, die seine linguistischen Fähigkeiten überschritten.

Einer seiner Kommilitonen beschäftigte sich mit dem Studium alter Sprachen. William überlegte – irgendwo hatte sicher er seine Nummer.

Der Samstag begann für William früher als sonst. Er wollte in dem kleinen Buchladen anrufen, ehe dieser für das Wochenende schloss. Aber als er, auch nach wiederholten Versuchen, niemanden erreichte, beschloss er, sich vorerst mit seinem Studienfreund zu verabreden. William war gespannt zu erfahren, was genau auf den vergilbten Seiten stand.

Es blieb noch etwas Zeit bis zum Treffen, somit nahm er das Buch und begab sich damit in seine Bibliothek. William hatte, während seines Literaturstudiums, mit dem Sammeln sonderbarer, alter Bücher begonnen und meinte, dass ein oder andere da zu haben, dass ihm bei der Herkunft der Texte helfen könnte. Und tatsächlich stieß er, beim genaueren Hinsehen, auf einige seltsame Erwähnungen, die denen in dem fremden Buch ähnelten.

Plötzlich klingelte es.

»Wo steckst du …?!«, die Stimme am anderen Ende des Handys gehörte James – dem James mit dem er sich vor knapp 30 Minuten treffen wollte!

»… ich … habe wohl die Zeit vergessen …«

»Ist alles okay?«, James Stimme klang besorgt.

»Ich denke schon«, entgegnete William leicht verwirrt. »… ich bin in 20 Minuten bei dir.«

 

Das Diner, in dem sie sich trafen, war so gut wie leer. James saß mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen im hinteren Teil des Ladens und winkte eifrig, als er William hereinkommen sah.

»Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, dafür das es angeblich so dringend sein sollte«, begrüßte ihn James neckend.

»Ich weiß … ich war abgelenkt«, seufzte William. »Tut mir leid, dass du warten musstest.«

»Schon okay, aber jetzt zeig mal her!«, James schob das Stück Kuchen zur Seite und wartete darauf, dass William ihm das mitgebrachte Buch reichte.

»Die Sprache scheint sehr alt zu sein …« William hatte den Stoff zuhause gelassen und das Buch stattdessen in einer seiner Dokumententasche verstaut.

»Wie alt genau?« James betrachtete den Einband. Als er es aufschlug und vorsichtig durch die Seiten blätterte, stellte er staunend fest, »Das ganze Buch scheint ursprünglich sehr alt zu sein – Wo hast du es her?«

William zuckte unsicher mit den Schultern, »… von einem Buchhändler«, was ihm einen abschätzenden Blick von James einbrachte.

»… was hältst du davon?«, nahm William das Gespräch wieder auf; James blätterte noch immer durch die Seiten. »Die betreffenden Texte sind kurz und wirken in sich abgeschlossen. Die Verfasser beschreiben eine Vielzahl von Toren und Ritualen, deren Sinn und Zweck es zu sein scheint …«, James hielt einen Moment inne und versuchte den genauen Wortlaut zu treffen, »… dem Neugierigen das zu zeigen, was hinter den Strukturen der natürlichen Welt verbogen liegt.«

 

Je mehr er las, desto mehr geriet er ins Grübeln – Er hatte eine Zeitlang mit Okkultismus rumexperimentiert und dabei ähnliche Schriften in den Händen gehalten. »Woher genau, hattest du es noch mal?«

»Der Buchhändler aus dem Libri, dem kleinen Laden in meiner Nähe, hat es mir gestern Abend vorbeibringen lassen.«

James blätterte weiter, bis er auf eine Seite stieß an dessen Ende sich ein sonderbares, schwarzes Symbol befand. Diese Seite weckte wage, aber dunkle Erinnerungen in ihm. Sein Magen krampfte und ihm war, als würden die Buchstaben sich auf dem Pergament bewegen. Sämtliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht, als er die Worte erkannte, die da Form annahmen – Hastig schlug er das Buch zu!

William schaute ihn verwundert an. »James …?«, fragte er vorsichtig, denn er bemerkte die plötzlich Blässe im Gesicht seines Freundes.

»William … ich glaube nicht, … dass das, was in dem Buch steht … etwas Gutes ist«, stammelte er, während seine Hand wie erstarrt auf dem Einband ruhte.

»Ich verstehe nicht … Was ist denn auf einmal los?«, entgegnete William mit Nachdruck.

»William … ich bitte dich. Gib diesem seltsamen Händler das Buch zurück!«

»James, du weißt doch was«, drängte William.

»Nur so viel gewiss, dass du die Finger davonlassen solltest!«

Williams Stirn zog Falten. Skeptisch nahm er das Buch wieder an sich. Das Verhalten seines Studienkameraden beunruhigte ihn.

William zögerte, schlug das Buch dann aber bei einer der Seiten auf, bei der er bereits begonnen hatte zu lesen und versuchte sie James zu zeigen. Doch dieser schob das Buch entschlossen von sich, »William, nein!«

»Also gut«, begann William nach einer Weile, »ich werde noch einmal im Libri vorbeischauen.«

 

Nachdem er das Diner verlassen hatte, ging er mit dem Buch in der Tasche zum Libri – James wusste etwas und William wollte wissen was es war. Wenn sein Freund ihm nicht weiterhalf, würde es vielleicht der Buchhändler.

Am Libri angekommen, fand er den Laden verschlossen vor. Ein Blick auf das Ladenschild verriet ihm jedoch, dass es eigentlich geöffnet sein sollte. »Hm …«, stutzte er, ehe er sein Handy hervorholte und die Nummer vom Libri wählte – doch auch dieses Mal nahm niemand ab.

William schob das Handy zurück in die Tasche und warf noch einen letzten Blick ins Innere des Ladens, als er eine Stimme hinter sich hörte. »Kann ich ihnen helfen?«

William drehte sich erschrocken um, ehe er den gebeugten Mann sah. »Sie sind William, nicht wahr?«, fügte der Alte hinzu.

»Ähm … ich suche den Besitzer – Richard.« William überlegte, er kannte diese Stimme von irgendwo her.

Der Alte holte einen rasselnden Bund Schlüssel hervor und trat an die Ladentür, »Richard musste kurzfristig abreisen. Ich schaue hier währenddessen nach dem Rechten.« Er betrat den Laden und winkte William anschließend herein.

»Sie … sind der Bote von gestern«, stellte William fest. Der Alte nickte. »Wie kann ich ihnen helfen?«

William sah ihn für einen Moment abschätzend an, dann folgte er ihm, trotz des unguten Gefühls, das in ihm aufkam, ins Libri.

»… das Buch«, begann er, »… was wissen sie darüber?« Er holte es hervor und der Alte streckte die faltige Hand danach aus, »Darf ich?« William reichte es ihm.

»Nun … es ist ohne Zweifel alt. Das Pergament ist echt, schon allein diese Tatsache zeugt von einem entsprechenden Wert des Buches.« Der Alte sah William abwartend an, so als würde er nur darauf warten, dass dieser ihm eine, bestimmte Frage stellte.

»… das meinte ich nicht …«, entgegnete William verunsichert.

»Natürlich meinten sie das nicht …«, bestätigte er lächelnd, den Blick noch immer auf ihn gerichtet.

»Dann wollen wir mal sehen …« Die Körperhaltung des Alte veränderte sich – richtete sich auf – und William glaubte seine Worte bis in die hinterste Ecke des Laden vordringen zu hören.

»Die Sprache, in der einige der Texte verfasst wurden, nennt sich R’lyehian …« Er blätterte bedächtig durch die Seiten, während er mehr und mehr über den Inhalt preisgab, »… die Niederschriften in diesem Buch … sind echt!«, schloss der Alte seine Rede und die Gewissheit, mit der er sprach, ließ William erschaudern.

Er zuckte zusammen als der Alte das Buch zuklappte und ihm, mit einem unheilvollem Lächeln, reichte. Zögernd griff er nach dem Einband und wagte kaum, dem Alten, beim Verlassen des Ladens, den Rücken zuzukehren. Erst als die Ladentür hinter ihm ins Schloss fiel, schob William das Buch mit zitternden Händen zurück in seine Tasche.

Zweifelnd verließ er die kleine Straße, in der sich das Libri befand, während sein Verstand verzweifelt versuchte, mit dem mitzuhalten, was ihm der Alte soeben erzählt hatte.

James wusste es …! schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Er wusste, dass es echt war und hatte ihm nichts gesagt.

Ohne zu wissen was genau er jetzt machen sollte, beschloss er, erst einmal nach Hause zu gehen. Er musste sich sammeln; musste nachdenken.

 

Zuhause angekommen verriegelte er die Tür. Suchend tasteten seine Hände nach der Tasche, als wollte er sichergehen das sie noch da war. Als er hineingriff, schloss er erleichtert die Augen. Obwohl William nicht alles in dem Buch lesen konnte, so gab es doch Inhalte, die er verstand – mit dieser Erkenntnis begab er sich umgehend in seine Bibliothek.

 

William saß nun schon seit Stunden vor dem verhängnisvollen Buch, während er in Gedanken vertieft durch die Seiten blätterte – das alles ergab keinen Sinn.

Er blätterte, bis er zu einer Seite kam, die eine der Kreaturen zeigte, von dem ihm der Alte erzählt hatte. Grob skizziert und nur im Entferntesten Menschlich; die halb gehuften Füße hockend auf einem Grabstein, während seine knöchrigen Krallen etwas hielten, das Williams Verstand nicht wagte genauer zu benennen.

Der Text, der sich auf der gegenüberliegenden Seite befand, und den er nur zur Hälfte lesen konnte, handelte von einem Maler, dem nachgesagt wurde, dass er in Kontakt mit diesen abscheulichen Wesen stand. Der Schreiber berichtete von U-Bahnschächten und Tunnelsystemen unter Friedhöfen, in denen sie lebten.

Fasziniert von der Vorstellung, dieses Geschöpf könnte tatsächlich existieren, nahm er sich vor so viel wie möglich darüber herauszufinden.

Von James konnte er keine Hilfe erwarten, wenngleich dieser wohl die vertrauenswürdigste Anlaufstelle gewesen wäre. Somit lag es an ihm aufzuzeigen welche Wahrheiten in dem sonderbaren Buch steckten.

William studierte das Buch über Wochen hinweg und glaubte beinahe den Verstand zu verlieren, denn je länger er in dem Buch las, umso mehr schien er von den eigenartigen Schriften zu verstehen … Randbemerkungen gewannen an Bedeutung, während Texte ihm immer wieder von dem gotteslästerlichen Wesen berichteten, das sein Interesse ganz und gar für sich eingenommen hatte.

Eine dieser, zuvor abgetanen, Randbemerkung wies nun auf den „Eckington Cemetery“, nahe Sheffield, hin – William verstaute kurzerhand das Buch in seiner Tasche und kaufte sich am Bahnhof ein Ticket. Das war der Hinweis, nachdem er gesucht hatte!

Ohne groß darüber nachzudenken, ob es ratsam wäre sich vorerst ein Zimmer zu nehmen, erkundigte er sich im Bahnhof, in Sheffield, nach einer Buslinie zum „Eckington Cemetery“.

Es dämmerte bereits und die untergehende Sonne färbte den Horizont tiefrot. William ging die neblige Straße von der Haltestelle zum Friedhof hinunter; dorthin, wo er glaubte, dass sich eines dieser Wesen herumtreiben könnte – dieses eine würde reichen – würde ihm zeigen, dass die Niederschriften in dem Buch echt waren.

Das Gras unter seinen Schuhen raschelte, während er sich mit vorsichtigen Schritten dem Friedhofstor näherte. Zu seinem Erstaunen war es offen.

Fahles Mondlicht beschien die trüben Grabsteine und die Luft auf dem Friedhof kühlte sich mehr und mehr ab. William sah sich zögernd um während er weiter hinten vereinzelte, Moos befleckte Grabstätten ausmachen konnte. Er trat näher heran und der Geruch von Zerfall und Moder drängte sich ihm, aus dem Grabgewölbe, entgegen.

Die Treppenstufen, die ihn tiefer in das Gewölbe führten, waren von Pilzen überwuchert und Grabwürmer drängten sich aus den aufgebrochenen Ecken.

Im Schein der mitgebrachten Taschenlampe betrat er das faulig stinkende Gewölbe. Als er begann sich umzusehen, spürte er das dumpfe Knirschten des geborstenen Steinbodens unter seinen Sohlen und der abscheuliche Gestank des geöffneten Grabes wurde immer intensiver – doch bis auf mit Spinnenweben verhangene Sargnischen und offene Särge fand er auf den ersten Blick nichts.

Kurz war er versucht sich genauer umgesehen, doch der Geruch stieß ihn mehr und mehr ab, sodass William beschloss die Treppe wieder hinaufzusteigen – als er von draußen etwas hörte.

Ein Schnattern, begleitet von einem Scharren, drang an seine Ohren. Williams Herz stockte. Rasch schaltete er das Licht aus. Mit dem Rücken zum Mauerwerk, hockte er sich auf die modrigen Treppenstufen, während der nüchterne Teil seines Verstandes ihm einredete, dass es lediglich der Friedhofswärter wäre, der seine nächtlichen Runden drehte – Doch da war dieses schmatzende Geräusch. William drängte sich weiter an die Mauer, während die Erinnerung, an jene Abscheulichkeit in dem Buch, seinen Verstand langsam zu zerfressen schien. Geduckt versuchte er ans obere Ende der Treppe zu gelangen – nur ein einziger, kurzer Blick und er hätte Gewissheit – als ihm die Taschenlampe aus den Händen glitt und scheppernd hinunter ins Grabmal rollte.

Williams Herz drohte auszusetzten als ein grotesker Schatten den Eingang der Grabstätte verdunkelte. Erneutes Schnattern war zu hören. William hastete die Treppe hinunter und kam neben der Taschenlampe auf dem harten Steinboden auf. Mit zitternden Händen griff er nach der Lichtquelle und richtete den Schein auf das, was eigentlich hätte ein Mensch sein sollen – doch das hundeähnlichen Gesicht, mit den geifernden Lefzen, offenbarten ihm die Wahrheit, nach der er so inbrünstig gesucht hatte …

Nachdem die Schreie verstummten und die Stille allmählich zurückkehrte, hörte der alte Mann noch vereinzeltes Schmatzen aus dem von Moder überwucherten Gewölbe kommen. Ruhigen Schrittes stieg er die Stufen zum Keller hinunter, bis er bei der Tasche angelangt war, die unberührt am Fuß der Treppe lag. Die faltige Hand danach ausstreckend, hob er sie aus dem Dreck. »Genies dein Frischfleisch«, sprach er ins Dunkel, ehe er sich umdrehte und die Gruft, zusammen mit dem Buch in der Tasche, verließ …

Kapitel 2 Ende

 

Weiter mit Kapitel 3

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert